| Alles ist möglich. Immer. Man muss es nur zulassen, offen dafür sein und nicht allesschon im Vorfeld zerdenken. Fast möchte man an dieser Stelle das alte Sprichwort vom
 wagen und gewinnen bemühen, wenn es nicht schon so abgedroschen wäre, denn: es
 stimmt nun mal.
 Alles ist möglich. Aus genau dieser Geisteshaltung heraus ist »India«, das neue Album
 von Graziella Schazad, entstanden: mit viel Mut, neu gewonnener Selbstsicherheit und
 einem nahezu kindlichen Vertrauen – in ihre Musik, ihre neuen Songs, aber auch in sich
 selbst. Doch der Weg dorthin war alles andere als leicht. Denn als Tochter einer deutschpolnischen
 Mutter und eines afghanischen Vaters wurde ihr die Zerrissenheit mit in die
 Wiege gelegt.
 Als ihr Dad mit 17 Jahren nach Deutschland kommt, sieht er sich von den kulturellen
 Unterschieden seiner neuen Heimat überfordert und tut sich mit deren Überwindung,
 gelinde gesagt, schwer. Und die ständigen Konflikte ihrer Eltern gehen natürlich auch an
 Graziella nicht spurlos vorbei. »Die Liebe meiner Eltern war stets da, aber die hatten
 einfach viel mit sich selbst und ihren Befindlichkeiten zu kämpfen. Dadurch bin ich oft auf
 der Strecke geblieben«, erzählt Graziella. »Zuhause hat sich für mich oft wie Weltkrieg
 angefühlt; ein Weltkrieg, über den wiederum nie gesprochen wurde. Ich musste alles
 selbst erfühlen und erahnen. Und das ist für ein Kind unheimlich schwer.«
 Trost und Halt und Kraft findet sie nur in der Musik. Bereits als 3-Jährige lernt sie Gitarre
 zu spielen, ein Jahr später kommt die Violine hinzu und mit neun bekommt sie ein
 Klavier. Mit zwölf beginnt sie, erste eigene Songs zu schreiben und die Musik als Ventil zu
 entdecken, um die schwierigen Verhältnisse zu Hause aufzuarbeiten. Als sie kurz vor dem
 Abitur im Jahr 2000 vorzeitig die Schule abbricht, hat sie bereits eine Band, mit der sie
 auch erste kleine Erfolge verbuchen kann – doch so richtig zünden will das Ganze nicht.
 Also löst sich die Band nach einigen Aufs und Absim Jahr 2004 bereits wieder auf – eine
 weitere Enttäuschung, die Graziella erst einmal verarbeiten muss.
 Eine große Hilfe dabei ist ihr heutiger Mann, der ihr endlich die Unterstützung und
 Zuneigung zukommen lässt, an denen es ihr seit ihrer Kindheit stets gemangelt hat.
 »Erst die Liebe zu meinem Mann hat mich dazu gebracht, richtig Vertrauen fassen zu
 können – auch in mich selbst«, gesteht sie. » Mein Herz trägt einfach Narben und ich
 weiss nicht, ob ich es je hinbekommen werde, die nicht mehr zu spüren. Doch ich bin
 daran gewachsen. Das hat mich stark gemacht.«
 Denn Narben sind eben kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke; von der Kraft
 auch schwere Zeiten zu überstehen. Dieser Umstand hat Graziella gezeigt: Alles ist
 möglich. Ihr Mann wiederum ist derjenige, der sie darin bestärkt, wieder Songs zu
 schreiben. Das Resultat: Ihr Debütalbum »Feel Who I Am« im Jahr 2010.
 Die Platte ist ein Erfolg, die Presseresonanz riesig. Und jeder, der Graziella live sieht, ist
 sowieso von ihr, ihrem Können und ihrer Ausstrahlung begeistert. Ihre handgemachte,
 organische Popmusik ist speziell genug, um sich vom Gros anderer Produktionen
 abzuheben, aber eben nicht zu speziell, um kein Gehör mehr zu finden. Nach der
 Veröffentlichung – trotz des eingeschlagenen Erfolgsweges und der tollen Reaktionen auf
 ihr Albumdebüt – zieht Graziella sich jedoch erst einmal wieder zurück. Sie arbeitet
 weiter ihre schwierigen Familienverhältnisse auf, bei der ihr vor allem der Umstand hilft,
 selbst Mutter geworden zu sein. »Durch meine Tochter bin ich total mit mir ins Reine
 gekommen. Ich dachte immer, mit einem Kind hätte ich viel weniger Zeit für mich selbst,
 aber das Gegenteil ist der Fall: Ich bin jetzt viel mehr bei mir«, erzählt Graziella. „Ich bin
 viel zufriedener, viel selbstbewusster geworden – und das hört man auch auf meinen
 neuen Songs.«
 Und tatsächlich: man merkt den Stücken auf »India« unzweifelhaft an, dass sie einer
 veränderten, verbesserten Lebenssituation entsprungen sind. Graziella ist angekommen.
 Sie wirkt nicht mehr verloren, weil sie endlich zu sich selbst gefunden hat – als Ehefrau
 und Mutter, aber auch als Künstlerin. »Die neue Platte  hat viel mehr Soul – aber nicht im
 Sinne des Musikgenres, sondern hinsichtlich des Gefühls«, findet Graziella. »Die neuen
 Stücke sind vielschichtiger, haben mehr Tiefe. Es gibt viel mehr zu entdecken.« Und zwar
 auf sämtlichen Ebenen.
 So ist die Instrumentierung viel komplexer ausgefallen als noch auf dem Vorgänger, ohne
 deshalb überladen zu wirken. Gleichzeitig passiert musikalisch jedoch unglaublich viel,
 sodass jeder Durchlauf der Platte eine neue Offenbarung bedeutet. Inhaltlich geht es auf
 »India« nach wie vor in großen Teilen um Graziellas Beschäftigung mit ihrer schwierigen
 Familiensituation. Doch zum einen findet die 31-Jährige dafür wohlgew6auml;hlte Worte, deren
 interpretatorischer Spielraum mannigfaltige Deutungsmöglichkeiten zulässt, zum anderen
 schwingt gleichzeitig stets eine ungeheure Kraft mit, die es auf ihrem Debütalbum vor
 vier Jahren in dieser Form noch nicht gab. »Ich trage durchaus etwas Destruktives in
 mir; eine Angst vor Verletzung, die ich auch in meine Musik lege. Doch meine eigene
 kleine Familie hat mir in den letzten Jahren ganz viel Stärke verliehen, und auch diese
 Kraft steckt in jedem einzelnen meiner neuen Songs.«
 Paradebeispiel dafür ist das Stück »Before We’re Done«, dass die Überwindung von Angst
 zum Thema hat; eine auf Selbsterfahrung beruhende Motivationshymne, nach der
 Aufgeben keine Option mehr darstellt und mit kindlichem Optimismus darauf beharrt
 wird, dass alles möglich ist. Ähnlich viel Hoffnung verbreitet das Stück »Love Is«, dass in
 all seiner instrumentierten Zerbrechlichkeit ganz viel Kraft in sich trägt.
 Gleichzeitig werden auf dem Album auch ungemein düstere Momente verhandelt wie in
 dem titelgebenden Stück »India« und der ersten Single-Auskopplung »How Many
 People«, dennoch ist »India« keine schwere Platte geworden. Denn in all den Liedern,
 zwischen sämtlichen Songzeilen hört man eine Frau, die an Stärke gewonnen hat, weil
 sie offen ihre Schwächen teilt; die ihren Weg in die Welt – insbesondere ihre eigene
 Gefühlswelt – endlich gefunden hat; und die nicht vorhat, diesen eingeschlagenen Weg
 vorzeitig zu verlassen, bevor sie nicht sämtliche Ziele erreicht hat.
 Alles ist möglich.
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